Hexenwald
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 Europas eigene Religion

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BeitragThema: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptySo Jun 05, 2011 2:24 pm

Ich hatte es ja andersweitig schon angeschnitten und auch bei meinem Beitrag zu Franziskus schwang es schon mit, dass ich sehr viel von den Forschungen von Frau Hunke zur europäischen Religion halte und ihrer Aussage, dass innerhalb des kirchlichen Christentums, mit seinem Sünden- und Bußdenken, dass dem Menschen selber nichts (bei Luther sehr ausgeprägt) und nur Gott alles zugesteht und zwischen Gott und Mensch trennt, ein "unitarisches" Denken, also der Einheit von Gott, Mensch und Welt durch die Jahrhunderte hin wirkte:

Ich bringe hier einen Auszug aus ihrer Schrift "Kampf um Europas eigenen Identität" den zweiten Teil, wo sie das gut darstellt (Die Rechte sind klar, dass darf öffentlich eingestelllt werden:

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II - Erneuerung der religiösen Identität

Dennoch ist die totale Identifikation mit der Sünderreligion — auch wenn man sich daran gewöhnt hatte, Urkunden mit dem Namen und dem flotten Zusatz „peccator“, „Sünder“, zu zeichnen — niemals die Regel. Zumal nicht bei den aktiveren, selbständigeren Geistern. Aller seelsorgerischen Anstrengungen zur Umorientierung des Bewußtseins durch das „Aufpäppeln mit der Milch der christlichen Lehre“ zum Trotz erhält sich die Art und Weise des ureigenen Denkens. Ja, es formt seinerseits die fremden Denkinhalte durch die eigene Art des Ergreifens unwillkürlich um, so daß man von einer unbewußten Germanisierung des Christentums gesprochen hat. Daraus erklären sich wesentliche Unterschiede unter seinen nationalen Ausprägungen, wie die des koptischen Christentums, das unverwechselbar ägyptische Züge trägt, des syrischen, griechisch-orthodoxen, des afrikanischen, lateinamerikanischen, des italienischen, des französischen, des deutschen, niederländischen, englischen und so fort. Nie aber hat unter der sich langsam glättenden Oberfläche das vulkanische Gestein des inneren Widerstandes sich ganz beruhigt. Immer wieder schießen während anderthalb Jahrtausenden eruptiv durch die Decke der abendländischen Christenheit Auflehnung, Aufstand, Protest empor gegen den diktierten Glauben, der sich mit den eigenen Überzeugungen nicht vereinbaren will.

Der europäische Gegenwurf zum biblischen Sündenfallmythos

„Es stimmt nicht, daß die beklagenswerte Situation, die Adam hervorgerufen hat, verhängnisvolle Folgen gehabt und sich auf alle Menschen vererbt hat! Die Sünde ist eine Wahlmöglichkeit, vor die der Mensch gestellt ist!“empört sich der aus dem Norden der britischen Inseln nach Rom gekommene Pelagius über die augustinische Erbsündenlehre. „Wir widersprechen Gott, er sei der Urheber menschlicher Schwäche von elenden Sündern — o blinder Unsinn!“ Wie soll eine Sünde eine unausweichliche Verderbnis von universaler Ausbreitung nach sich ziehen? Eine Verderbnis schon der Allerkleinsten, der eben Geborenen? Nein, sündlos wird der Mensch geboren, und Gottes Gnade offenbart sich in dem freien Willen, den er ihm gab, zu sündigen oder sich von einer Sünde abzuwenden, in der Freiheit, sich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden, und in der Kraft, das Gute auch zu vollbringen. Denn Gottes Kraft ist es, die in uns handelt, ebenso wie es Gottes Wille selbst ist, der als Freiheit in und durch uns wirkt.
„Es gibt nämlich in unserer Seele eine Art natürliche — wenn ich
so sagen darf Heiligkeit“2.

In jedem Menschen liegen die Kräfte, sich über die Gebundenheit der Instinkte und über die Zwänge der Natur zu erheben und der freiwillige Vollstrecker des göttlichen Willens zu sein. Dieses Vorrecht ist unsere göttlichste Mitgift: den eigenen Willen frei dem seinen zu verbinden.
„Ich gehorche nicht, sondern ich stimme ihm zu. Ich folge ihm aus
eigener Überzeugung, nicht weil ich muß.“

Das ist nicht die Stimme eines Sündenbewußten, sich nach Erlösung Sehnenden. Das ist die selbstbewußte Sprache eines Menschen, der aus freier Entscheidung Gefolgschaft leistet oder versagt, gegenüber dessen freier Hingabe erzwungener Gehorsam ein Nichts ist. Zwang vernichtet. Zwang zerstört die gott-menschliche Beziehung. Nur die Freiheit des autonomen Menschen verwirklicht sie, der sich selbst das Gesetz gibt und sich selbst verantwortlich ist. Und der allein sittlich handelt. Aber nicht ein Mensch, der an die eigene Ohnmacht glaubt- und an sein Erlöstsein durch Christus.

Pelagius hatte in den christlichen Kreisen Roms eine Sittenverwilderung und Lasterhaftigkeit angetroffen, für die er die Schuld nicht einer angeborenen Sündigkeit und menschlichen Schwachheit gab, sondern dem Glauben, schon für immer errettet zu sein. Für diesen tieferschreckenden Vorgang des allgemeinen Sittenverfalls und religiösen Glaubensverfalls klagte er die christliche Lehre von der sündigen Natur des Menschen an und den Glauben an die durch Christi Kreuzestod bereits geschehene Erlösung aller Getauften: Sie hätten die fehlende sittliche Verantwortung des einzelnen verschuldet. Die christliche Predigt der menschlichen Schwachheit sei für den Verlust der Sittlichkeit verantwortlich. Dagegen lehrt er die menschliche Stärke:
„Wir müssen an unsere Stärke glauben, sie zu erkennen lernen und unsere Kräfte benutzen, die gewaltig sind! Aus uns selbst und in uns besitzen wir alles, was notwendig ist, um das göttliche Gesetz zu erfüllen.“3

„Dein Adel, deine hohe Stellung, deine Reichtümer“, schreibt Pelagius in einem Brief an ein sechzehnjähriges junges Mädchen aus reicher römischer Adelsfamilie, „hängen nicht von dir ab. Doch niemand wird dir deine geistigen Reichtümer übertragen können außer du selbst!“ Wie gesagt: Augustinus wurde der Sieg zugeschanzt, Pelagius verurteilt, seine Lehre von Konzil zu Konzil verdammt, seine Schriften verboten und mit Silentium bedeckt, sie blieben verschollen, bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Abschrift wieder aufgefunden wurde. Und doch erhebt sich hier eine Stimme und dort, die die Sprache des längst Vergessenen spricht. Ist es Zufall, wenn im 13. Jahrhundert ein deutscher Ritter in Wien den Verlaß auf Jesu Erlösertod als Ursache der Unsittlichkeit, Gottes Vorherbestimmung als Verführung zu Gewissenlosigkeit brandmarkt?4 Ist es blinde Duplizität der Gedanken, wenn während der Herrschaft der Scholastik der deutsche Dominikaner und Provinzialprior der Provinz Teutonia, Professor an der Pariser Sorbonne und Leiter des Studium generale in Köln Meister Eckhart die Einheit des menschlichen Willens mit dem Göttlichen als Akt freier Zustimmung verkündet?
„Gott zwingt den Willen nicht, er setzt ihn in Freiheit: so daß er nichts will, als was Gott und die Freiheit selber ist. Da vermag nun der Geist nichts anderes zu wollen, als was Gott will. Das ist keine Unfreiheit an ihm, das ist seine eigenste Freiheit.“5

Ist es nur reiner Zufall, daß im England des 18. Jahrhunderts der Earl of Shaftesbury6 den als Sünder verleumdeten Menschen rehabilitiert als den Selbstgesetzgeber, der als Bekundung des göttlichen Urgrunds in sich selbst den Quellgrund des Sittlichen besitzt? Ist es mehr als ein willkürliches Zusammentreffen, daß im gleichen Jahrhundert — 1400 Jahre nach Pelagius — an drei verschiedenen Stellen Europas gleichzeitig pelagianische Motive spontan und sinngetreu erneut angeschlagen und zur weithin tönenden Melodie aufgenommen werden? Wenn in der Schweiz Heinrich Pestalozzi7, in Königsberg Immanuel Kant, in Jena Friedrich Schiller, „den Abgrund füllen“ zwischen der „Furchterscheinung“ des außerweltlichen Gottes und „fremden Diktators“ und der sündigen Menschheit in „ihrer traurigen Blöße“ durch die Einheit des dem „Innersten unserer Natur“ innewohnenden „heiligen, göttlichen Wesens“, „des Göttlichen in der eigenen Brust“ und im eigenen Willen, eines „Unbedingten, das im Selbst als moralisches Gesetz spricht“?8 Wenn Schiller die Christenheit aufruft:
„Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron“?9

Und wenn Kant den Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu einem eigenständigen, autonomen Selbst und aus dem so verschuldeten „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ herausführt, indem er ihm die Würde zuerkennt, frei und fähig zu sein, sich selbst das Gesetz seines Erkennens und seines Handelns zu geben und sich ihm freiwillig unterzuordnen aus keinem anderen Beweggrund als aus Achtung für das Gesetz und seinen göttlichen Grund10? Beweisen nicht diese und Hunderte von Stimmen, daß ein und derselbe verborgene religiöse Strom, ein- und dieselbe Denkungsart unterhalb einer mehr oder weniger gelungenen Christianisierung der europäischen Völker durch die Jahrtausende strömt, in spontanen ketzerischen Widersprüchen sich bekundet, die ohne Vorbild, ohne Berührung untereinander sowohl in den Ecken, an« denen der Anstoß sich ereignet, als in den Entgegnungen übereinstimmen? Eine berühmte Lebensgeschichte hat uns eine Begebenheit aufbewahrt, die solchen Übereinstimmungen den Zufallscharakter nimmt und mit unüberbietbarer Überzeugungskraft die religiöse Identität innerhalb gewaltiger Zeiträume beweist.

Auf einer Synode der „Brüdergemeinde“, einer pietistischen Erweckungsbewegung, deren Lehre der Versöhnung der tiefsündigen Menschheit mit Gott durch Christi Tod galt, unterhält sich Ende des 18. Jahrhunderts arglos ein junger, aufgeschlossener Teilnehmer, der äußerst erstaunt ist, daß man ihn nicht als einen Christen gelten lassen will, ja — höchst erschrocken, als er „eine große Strafpredigt erdulden muß“ und einer der Synodalen ihn beschimpft, „ein wahrer Pelagianer zu sein“. Der Bescholtene forscht daraufhin nach allem, was er über diesen ihm gänzlich unbekannten Pelagius erfahren kann — und eine Welt geht ihm auf, die der seinen tief verwandt ist. Von seinen Überzeugungen „war ich aufs innigste durchdrungen, ohne es selbst zu wissen“11.

Es ist der fünfundzwanzigjährige Goethe, der nach diesem ihn aufrüttelnden Erlebnis ein Prometheus-Drama12 beginnt, den ungeheuersten Protest gegen „die Götter droben“. Denn während dort Prometheus die als seine Feinde hohnlachend abweist, erkennt er staunend in sich, in seiner schöpferischen Kraft das Göttliche selber. Was er für sein Eigenes gehalten hatte, das ist das Göttliche in ihm und mit ihm ununterscheidbar eines:

„So war ich selber nicht selbst,
Und eine Gottheit sprach,
Wenn ich zu reden wähnte
Und wähnt' ich, eine Gottheit spreche,
Sprach ich selbst.“

So stark lebt Goethe aus diesem Urerlebnis der Einheit des Menschen mit dem Göttlichen, kraft der er die Freiheit besitzt, sich zu entscheiden, sich strebend zu bemühen, aber auch zu irren; und den inneren Kompaß, der ihn auf seinem langen Lebensweg begleitete, zeichnete er in der Gestalt Faust. Hier ist alles ein einziger Gegenbeweis gegen jene in Marienborn schon bekämpfte Lehre von der „Verdorbenheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall“ — hier erfolgt derselbe Einspruch dagegen, „daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu finden“ — hier meldet sich sein scharfer Widerspruch gegen die Rede, der Mensch müsse „auf seine eigenen Kräfte durchaus Verzicht tun“ — derselbe Protest, „er habe alles von der Gnade zu erwarten“, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit seine Auseinandersetzung mit den Pietisten festgehalten hat. Um den Menschen geht es: hier Mephisto, der das unbegreiflich hohe Gotteswerk Mensch in Zweifel setzt und seinen Triumph schon vorausschmeckt, wenn er es herabgezogen haben wird in die Verderbtheit der staubfressenden „berühmten Schlange“ — dort der Herr, der Faust dem Teufel übergibt, übergeben kann, weil der göttliche Quell in ihm springt:
„Nun gut, es sei dir überlassen!
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Weg mit herab —
Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“13

Gott kann — das ist der klare Gegenwurf des europäischen Menschen gegen den orientalischen Sündenfallmythos — bedenkenlos Faust dem Verführer ausliefern und ihn, ohne einzugreifen, sich selbst überlassen, weil der Mensch nie seinen „Urquell“, seinen göttlichen Urgrund, die innere Magnetnadel verlieren kann, die ihm trotz allen Irrens den rechten Weg weist.

Europa behauptet das „Heil“ gegen den orientalischen Dualismus

In der Reibung an der christlichen, dualistischen Spaltung des Seins in ein außerweltliches Jenseits, aus dem ein persönlicher Gott in das von allem Göttlichen entleerte, des Heils verlustig gegangene Diesseits durch Zorn und Gnade, als liebender Vater und strenger Richter lohnen und strafend eingreift, ist die uralte, spezifisch europäische Urerfahrung des Einen Seins und gottweltlichen Einsseins in immer neuen Aspekten wiedererweckt und bewußt geworden, durchdacht und vertieft in einer europäischen Religion entfaltet14. Männer und Frauen aus allen europäischen Nationen, aus allen Ständen und Berufen, die italienische Gräfin wie die niederländische Bäuerin und die französische Herzogin, der englische Bischof, der deutsche Schuster, der Schweizer Arzt und der französische Goldschmied, viele englische Physiker, deutsche Philosophen und Dichter, wie auch Jesuiten, Dominikaner, Franziskaner, Beginen, Brüder des freien Geistes, Priester, Mönche und verfolgte Gemeinschaften, die nach Amerika auswanderten und drei der großen Präsidenten der USA15 stellten, Menschen der unterschiedlichsten Charaktere und Temperamente — sie alle, die sich mit den fremden Glaubensvorstellungen nicht abfinden konnten und in ihrer Auseinandersetzung mit ihnen jeweils zu ihrer eigenen religiösen Identität fanden, sie alle auf oft einsamen Posten, von der Kirche bedroht, verfolgt, verbrannt, stimmen, meist ohne voneinander zu wissen, wie in geheimer Verständigung dieselben Themen, dieselben Klänge an und in demselben mächtigen Chor zusammen.

Ob Meister Eckhart den schon allenthalben keimenden Gedanken des dem menschlichen Seelengrund innewohnenden Göttlichen — in dem das germanische „Heil“ als Grund der Existenz nachschwingt — in tief hinableuchtender, schöpferischer Intuition von der ,Geburt Gottes in der Seele’ groß entfaltet zur Wiederheiligung des erniedrigten Menschen und zur Heilung der Gott-Mensch-Einheit von ihrer Zerreißung, von ihrem Herr-Knechtsverhältnis und dem ewige-Ruhe-Suchen in Gott dem Herrn zu einem krafterfüllten, „von Heil“ erfüllten Leben der Tat und des ewigen Werdens, das durch keine Furcht und Sorge, Schwachheit und Angst zerfressen wird16,— er erhält Nachfolge in Flandern und den Niederlanden, in Süddeutschland und der Schweiz, durch Seuse und Tauler, den Frankfurter Deutschherrn und viele andere, die, wenngleich sie dem Maß dieses außerordentlichen Mannes nicht entfernt nahekommen, in seine Fußspur treten. Und nicht diese einzelnen allein. Die Ergriffenheit durch die — gegenüber der christlichen grundverschiedenen, sogenannten „deutschen“ — Mystik weitete sich aus zu einer Volksbewegung von europäischem Ausmaß.

Wie genau und wie tief Eckhart das Empfinden und die Sehnsucht des von der endzeit- und jenseitsgestimmten Kirchenpredigt erschreckten Volkes getroffen hatte, bewies die Liebe und Zuneigung, die ihm von seinen Hörern entgegenschlug. Darin erkannte er sehr genau, wie er seinem Inquisitor ins Gesicht sagte, den Hauptanlaß für seine Beseitigung: ohne seine Beliebtheit beim Volke „wäre derartiges von meinen Neidern nicht gegen mich versucht worden“17.

In einer Predigt hatte er einmal, mitgerissen vom Höhenflug seiner Gedanken, plötzlich innegehalten und seinen Hörerinnen tröstend versichert: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn sofern der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“18 Gerade die vertrauende Anhänglichkeit des Volkes und seine Aufgeschlossenheit aber bewiesen ihm, daß seine Worte vom Einssein des Wesenskerns der menschlichen Seele mit dem Göttlichen unmittelbaren Widerhall in ihren Herzen hatten. Weshalb? Weil eben diese Menschen „dieser Wahrheit gleichen“, so daß sie unvermittelt zu ihnen spricht, weil sie ihrem eigenen Wesen entspricht und sie darin übereinstimmen. Religiöse Identität!

Und obwohl diese Volksbewegung, wo immer sie sich rührte, in Arras, in Orleans, in Turin und Paris, in Nördlingen, Goslar und Köln erstickt oder blutig ausgemerzt und noch durch lutherische Intoleranz erbarmungslos verfolgt, gehetzt und gejagt wird, strömt sie unausrottbar durch die Jahrhunderte. Und es wiederholt sich, was schon dem pelagianischen Geist widerfuhr: obwohl das Werk Meister Eckharts, vor allem seine deutschsprachigen Predigten und Traktate, jahrhundertelang vergessen, in wenigen Blättern anderen Verfassern untergeschoben, ja selbst der Name dieses größten religiösen Genius des Mittelalters ausgelöscht und erst durch Franz von Baader 1816 der Nachwelt wiedergegeben wird. Da, zu ihrer aller Erstaunen entdecken die führenden Geister in Deutschland fast ohne Ausnahme schier ungläubig und in hellem Enthusiasmus unmittelbare Übereinstimmungen mit Gedanken, Elementen und Teilen ihrer eigenen Werke, eine ursprüngliche Geistesverwandtschaft des Denkens, eine beglückende Gleichgesinntheit. „Hegel“, berichtet von Baader, „war so begeistert“ durch den inneren Einklang und schloß seinen Ausbruch: „Da haben wir es ja, was wir wollen!“ Der erbittertste Hegelgegner Arthur Schopenhauer konnte sein Lob über die „wundervollen Schriften des Meisters der Meister“, den „Gipfelpunkt der deutschen Mystik“, nicht hoch genug ansetzen.

Ganz ohne Kenntnis der Eckhartschen Schriften durchweht Eckhartscher Geist bereits die Werke des Dresdeners Valentin Weigel, Pfarrers in Zschopau, und des Görlitzer Schuhmachers Jakob Böhme, die Bewegung des schlesischen Adligen Caspar von Schwenckfeld, die heute in den USA fortbesteht, und die zu Edelsteinen geschliffenenen Zweizeiler des Arztes Johann Scheffler, der sich Angelus Silesius nannte, auf das erstaunlichste jedoch die tiefreligiös erfüllte Gedankenwelt Fichtes. Auslöser sind wie überall der Aufstand gegen die dualistischen Zerspaltungen des Seins von antiker und christlicher Herkunft, der entschiedene Protest gegen den Glauben an einen jenseitigen, persönlichen Schöpfergott und gegen seine Offenbarungen durch ein heiliges Buch und durch einen Gottessohn, dessen Tod der durch den Sündenfall verderbten Menschheit Erlösung bringen soll, unter der alleinigen Bedingung des Glaubens an ihn, wozu allerdings die Gnade Gottes erforderlich sei. Solches trug dem Professor der Philosophie in Jena die „Anklage des Atheismus“ und „Feindes aller Religionen“ durch den Kursächsischen Kirchenrat ein. Die Anklage beantwortet Fichte mit seiner Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus von 1799 und seinen Anweisungen zum seligen Leben nach Vorlesungen von 1806 in Berlin, die zu den „reifsten und tiefsten Werken der gesamten Literatur der Menschheit“ gezählt worden sind.

Dem „heillosen Götzen“, den die Menschen sich zur alleinigen Austeilung von Glückseligkeit und Genuß geschaffen haben, steht hier gegenüber — wie für Eckhart — ein Göttliches, das in seiner Unbegreiflichkeit durch keinen Begriff erfaßt werden und nur durch Negationen — wie Eckharts „Nichtperson“, „Nichtgeist“, „Nichtgott“ — oder nur im Schweigen berührt werden kann. Wiedergekehrt ist das Gott-Mensch-Verhältnis des Einsseins im Wesen, im Wollen, im Leben und Wirken, wiedergekehrt der von Eckhart gewiesene Weg vom Gott-Haben zum Gott-Sein, das heißt zu einem „wahrhaften Leben“ durch Entäußerung von allem egoistischen Begehren und vom Haften an den Dingen, an Erfolg, an Genuß, selbst von allem egoistischen Heilsstreben, bis „überhaupt gar nicht mehr Zweie, sondern nur Eins, und nicht mehr zwei Willen, sondern überhaupt nur noch Einer und derselbe Wille alles in allem ist“. Wiedergekehrt ist die ebenfalls von Eckhart gewiesene Wendung des gotterfüllten Menschen aus der Tiefe seiner Seele in die Welt der Tat und, wie für Eckhart, eines selbstlosen und zweckfreien Wirkens „sunder warumbe“, indem der Mensch mit Gott wirkt „alliu siniu werc“ als „ein mitwürker“ Gottes. Auch für Fichte ist Gott Willens- und Pflichtgrund eines Handelns, das nicht auf Erfolg ausgeht, wo der Mensch nur im Tun, rein als Tun, lebt; denn „er will es darum, weil es der Wille Gottes in ihm und sein eigener, eigentlicher Anteil am Sein ist“.
„In diesem Handeln handelt nicht der Mensch; sondern Gott
selbst in seinem ursprünglichen inneren Sein und Wesen ist es, der
in ihm handelt und durch den der Mensch sein Werk wirket.“19

Die Übereinstimmung im Denken Eckharts und Fichtes ist so groß, daß sie über das Inhaltliche hinaus gelegentlich bis in die Sprache geht. Wenn Eckhart Anfang des 14. Jahrhunderts lehrte: „Gott und das Sein ist dasselbe“, und was außerhalb seiner ist, ist nichts — so spricht Fichte nahezu fünf Jahrhunderte später: „Gott allein ist, und außer ihm nichts.“

Und Duplizität der Fälle — im selben Jahr mit Fichtes Appellation erschien in Paris eine anonyme Schrift Über die Religion, die sich „An die Gebildeten unter ihren Verächtern“ wendet. Auch hier ein Protest gegen die Beklemmnis und Düsternis der als sündig verdammten Welt! Der Autor, der dreißigjährige Schleiermacher, Prediger an der Berliner Charite, ist von einem unerhörten Freiheits- und Glücksrausch erfaßt, als er „die große Tat vollbracht, hinzuwerfen die falsche Maske, das lange mühsame Werk der frevelnden Erziehung“ in einem krankhaften und krankmachenden christlich-pietistischen Glauben. Auch ihn plagt der armselige „Sklaven- und Götzendienst“ jeder Mittler- und Buchreligion, auch ihm, nachdem er „die ängstliche Scheidewand“ des Dualismus abgerissen hat, begegnet der „Widerschein“ des Göttlichen in allem, am reinsten aber „im innersten Selbst“:
„So oft ich ins innere Selbst den Blick zurückwende, bin ich zugleich im Reich der Ewigkeit.“20

Und gleich Meister Eckhart, doch ohne ihn zu kennen, fordert er die „Gebildeten unter den Verächtern der — christlichen — Religion“ auf, sich von allem freizumachen, „und so mehr Ihr euch selbst verschwindet, desto klarer wird das Universum vor Euch dastehn, desto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für den Schreck der Selbstvernichtung durch das Gefühl des Unendlichen in Euch“. In der „Selbstvernichtung“ öffnet sich die Seele für die Einwirkung des Göttlichen, so daß sie zum Leben erweckt wird und ein „neuer Mensch“ geboren wird, dessen ganzes Leben fortan „aus seiner eigenen Quelle hervorgehen muß“; im Bewußtsein, daß in allem jederzeit das Göttliche durch ihn spricht, wirkt und handelt. Indem Schleiermacher den Menschen den Imperativ setzt:
„Strebt danach, mehr zu sein als ihr selbst! — Strebt danach, mitten in der Unendlichkeit eins (zu) werden mit dem Unendlichen und ewig (zu) sein in jedem Augenblick!“

widerspricht er bewußt dem auf „Irreligiosität“ und „Selbsttäuschung“ beruhenden Glauben an zwei Welten, der „das Unendliche außerhalb des Endlichen“ sucht und „einen Unterschied macht zwischen dieser und jener Welt“, deren Glanz, wie er klar erkennt, „seine hohe und ausländische Farbe niemals verleugnen kann“21. Damit tritt er, ohne es zu ahnen, in die endlose Reihe aller großen Geister Europas, die einstimmig und aus innerer Wesensnotwendigkeit die „ausländische“ Zumutung, das Unendliche, Ewige, Heilige, Göttliche aus der Welt hinauszuverlagern und in einer zweiten, abgelegenen Welt unterzubringen, von sich gewiesen und es der Wirklichkeit zurückerstattet haben.

Europa wahrt die Einheit des Seins vor ihrer dualistischen Zerreißung

„Alle wenigstens, welche Religion haben“, rechtfertigt Schleiermacher die scharfe Ablehnung des allgemein als fremd empfundenen Dualismus, der das gesamte Sein zerreißt, „glauben nur an eine“. Diese Kette nämlich, beginnend mit Anaximander und Heraklit, den ionischen Denkern des vorsokratischen, vorplatonischen, vordualistischen Hellenentums, reicht bis in die Gegenwart über Eriugena und Eckhart, Nikolaus Cusanus und Giordano Bruno, Kant und Fichte, Schelling und Hegel, Goethe und Hölderlin, Teilhard de Chardin und Jaspers und unzählige andere, bei vollständiger Einhelligkeit ihres Glaubens. Für sie alle bilden das Unendliche und das Endliche eine unlösliche Einheit dergestalt, daß das Göttliche eine andere, tiefere Dimension bildet als das grenzenlose Universum und die Unermeßlichkeit der sinnlich-konkreten Natur, eine der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugängliche, gleichwohl die gesamte Wahrnehmungswelt umfassende und durchdringende Wirklichkeit, das zugleich unendlich über sie Hinausliegende und dennoch in allem Wesende, der ewige und doch in allem gegenwärtige Tiefen- und Seinsgrund, der alles Seiende sein macht, in allem lebt und wirkt.

Ein neuplatonisches Werk, das der Enkel Karls des Großen, Kaiser Karl der Kahle, brennend zu lesen wünschte, löste einen weiteren spezifisch europäischen Protest aus, der seit Mitte des 9. Jahrhunderts bis in die Gegenwart immer stärker und vielstimmiger werden sollte. Erhob der erste Protest sich gegen die Sündigkeitserklärung des Menschen entsprechend dem biblischen Sündenfallmythos und der Erbsündenlehre des Afrikaners Augustinus, so entzündete sich dieser Protest an der Sündigkeitserklärung der Welt durch den aus der Verfallszeit der Mittelmeerkultur stammenden, christlichen Neuplatonismus22 und seine Lehre vom stufenweisen Abfall vom weltenfern ruhenden Ureinen bis zur gottfernen, finsteren, bösen Materienwelt. Es war der ebenfalls von den Britischen Inseln gekommene, als Vertrauter des Kaisers, Leiter der Hofschule und Übersetzer jenes Buches am Kaiserhof bei Paris lebende Scotus Eriugena, der — wie Pelagius weder Mönch noch Priester — aufgrund seiner eigenen Schrift Über die Entstehung der Natur als die Nr. 1 auf den Index der von der Kirche verurteilten und verbotenen Bücher gesetzt wurde. Dieser genialste Denker seiner Zeit machte gleich zu Beginn seines Werkes unmißverständlich klar, daß er sich seine eigene Meinung unabhängig von jeder Autorität vorbehält, „die nicht von der wahren Vernunft gebilligt wird“, die ihrerseits, „weil sie sicher und wandellos sich auf ihre eigenen Kräfte stützt, keine Bekräftigung durch Zustimmung irgendeiner Autorität nötig hat“.

In ihm sträubte sich alles gegen die bewegungslos, in völliger Passivität ruhende ureine Gottheit und ihr willenloses Überquellen in eine stufenweise abgeschwächte Wirklichkeit, das in einer durch platonische und christliche Verdächtigung mit allen negativen Attributen diffamierten „Natur“ endete. Diesem extremen Dualismus widersprach er leidenschaftlich:
„Wir dürfen Gott und Kreatur nicht als zwei voneinander Getrennte betrachten, sondern als eines und dasselbe; die Kreatur gründet in Gott und Gott schafft sich in ihr auf wunderbare und unaussagbare Weise, indem er sich selbst in ihr offenbart, als der Unsichtbare sich sichtbar macht und als der Unbegreifliche begreiflich und als der Eine zu einem Vielfältigen ... indem er als Unendlicher zum Endlichen wird ... Macher von allem, in allem geworden, der ewig anfängt zu sein und als Unbeweglicher sich ins All bewegt und verkörpert, der alles in allem wird.“23


Indem Gott sich in unaufhörlicher Schöpfung in alles entfaltet, schafft er sich selbst in allem. So sind Gott und Welt zwar in ihrer Seinsweise verschieden, aber eins und identisch in ihrem Wesen.
„Es ist alles aus Gott und Gott in allem und alles nirgendanderswo her als aus ihm selbstgeworden, weil alles aus ihm selber und durch ihn selber und in ihm geworden ist.“24


Die Materie, für den orientalischen Dualismus jeder Prägung äußerster finsterer Gegensatz des allein lichten Geistes und Keim alles Bösen — für Eriugena ist sie Teil des Göttlichen selbst und von göttlicher Art:
„Von sich selbst nimmt Gott die Gelegenheiten zu seinen Theophanien und Erscheinungen, da von ihm, durch ihn, in ihm, zu ihm alle Dinge sind. Und so ist auch die Materie selbst, aus der die Welt gemacht ist, von ihm und in ihm und er selbst ist in ihr, soweit überhaupt ihr Sein erkennbar ist.“25

Im Menschen erst kommt Gott zum Bewußtsein seiner selbst. In des Menschen geistigen, schöpferischen Kräften wirkt er und erzeugt er sich in immer neuen Wirklichkeiten, so daß der mit göttlichen Kräften schaffende Mensch zum Mitschöpfer Gottes wird.

Die Gottdurchdrungenheit der Natur im Werden und Vergehen und aller ihrer Wesen von den kleinsten bis zu den Gestirnen, der blühenden Pflanzen, der Vögel und allen Getiers, ihrer lebenfördernden und zerstörenden Elemente — sie alle sind Selbstoffenbarungen Gottes, nicht ein täuschender, fahler Schein. Indem Gott sich in allem schafft, vermindert sich nicht — wie bei Platon — seine Realität, noch schwindet: — wie auch für den Neuplatonismus — ins Nichtseiende, im Gegenteil! Gott bringt sich in der Natur zu reicher, gesteigerter Wirklichkeit.

Diese dem europäischen Menschen so innig vertraute Naturheiligung und Naturfrömmigkeit, von Ketzergerichten und hohen Konzilien verdämmt und verboten, verfolgt, wo sie sich hervorwagte wie 1215 in zwei Magistern an der Sorbonne, Almarich von Bene und David von Dinant, in den Amalrikanern, von denen 1210 vierzehn an lebendigem Leib in Paris verbrannt wurden wie noch unzählige nach ihnen, — sie ergriffen dennoch das Volk, wenn auch nur für eine kurze Spanne, wie ein Rausch der Freude zugleich mit dem Erblühen des vom arabischen Spanien überkommenen Minnesangs. So wenn ein ritterlicher Sänger aus Tirol, Friedrich von Sonnenburg, in seinen Liedern von der Gottartigkeit der Welt die Natur vom Makel des Widergöttlichen und von ihrer Erniedrigung zum Jammertal befreite:
„O wohl dir, Gottes Wundertal! ...
Du zarter Gottesgarten,
in der Gott wunderbar viel Wunder gewundert hat!
Schälte ich Gottes hohes Wunderwerk,
So schälte ich Gott an seiner Schöpfung!
Wer dich schilt, Welt, der schilt Gott!“26

Auch Eriugenas Name und Werk wurden nach seiner Verurteilung und der Vernichtung seiner Schriften vergessen. Und trotzdem erbt sich sein Geist der Heiligung der Natur in unendlichen Verzweigungen durch die gesamte europäische Geisteswelt, aus der kein Land zwischen Sizilien und Bergen in Skandinavien sich ausschließt. Namen drängen sich auf wie Walther von der Vogelweide und Francesco von Assisi, Giordano Bruno, der am 17. Februar 1600 in Rom lebendig verbrannt und Lucilio Vanini, der am 16. Februar 1619 in Toulouse auf dem Scheiterhaufen getötet wird, Namen wie Goethe und Hölderlin, Geibel und Rückert, Rilke und Teilhard de Chardin, um nur einige zu nennen.

An einer Gabelung dieser sich über ganz Europa weithin verzweigenden Religiosität der Gott-Natur steht Mitte des 15. Jahrhunderts einer der bedeutendsten und — ohne daß die von ihm ausgehenden Geistesströme bisher genügend aufgedeckt sind — die Zukunft wesentlich mitbestimmenden deutschen Denker. Obwohl er die höchsten Würden innerhalb der kirchlichen Hierarchie erklomm, ist er mit allem Fühlen und Denken in dem ureigenen religiösen Erbe Europas verwurzelt. Es ist der Moselländer Nikolaus von Kues (1401-1464), von seinem einstigen Schulfreund, der als Pius II. die Tiara trägt, „Cusanus“ genannt, der es als Doktor der Rechte bis zum Reformlegaten für Deutschland, zum Kurienkardinal, zum Generalvikar in Rom und Ratgeber des Papstes bringt...

In der Gottesschau dieses umfassenden Geistes treffen gleichsam drei Blickwinkel ureuropäischer Sichtweisen in einem zusammen: die Einheitsmetaphysik eines Eriugena von Gott und Welt und Gottes Werden in ihr, das Einssein von Gott und Mensch und das Werden Gottes in der Seele in der Mystik Eckharts und des Pelagius Lehre von der Freiheit des Menschen dank des Einsseins des göttlichen und des menschlichen Willens. Explicatio, Entfaltung alles Seienden aus dem Sein, aller Wesen und Dinge des gesamten Universums aus Gott — das ist Ursprung und Grund aller „Ungenauigkeit“ des konkret Wirklichen, aller unendlichen Ungleichkeit, Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit innerhalb der Schöpfung, die keine Wiederholungen, weder in Raum noch Zeit, kennt, Ursprung und Grund alles Lebens, Werdens, Bewegens aller Evolution. Alles ist Gottesentfaltung und gottentstammt, Entstehen und Vergehen, Zeugung und Zerstörung, keines kann ohne das andere sein, und auch das Negative empfängt seinen göttlichen Sinn aus dem Ganzen.

Damit heiligt der Cusaner die Welt so tief, daß sie keiner Heiligung durch Sakramente oder ein Opfer Christi bedarf. Hand in Hand mit der Wiederherstellung des uralten, im „Heil“ anwesenden göttlichweltlichen Zusammenhangs stellt der Cusaner die niedergetretene Würde und das Eigenrecht alles Irdischen, auch des Menschen wieder her, der selber explicatio Dei, Entfaltung Gottes und unmittelbar zu Gott ist — nicht nur der Papst, nicht nur der Geistliche! Auch der Laie, der einfache Mensch, ist selber Heilsträger, wie schon Eckhart wußte. Damit gibt der Deutsche jedem Laien eine Würde zurück, wie sie ihm seit Jahrhunderten von der Kirche nie zuteil geworden, die vor der Bekehrung jedem Menschen eigen gewesen war.

Es war dasselbe Prinzip, als der Cusaner — hundert Jahre vor dem bloßen Mittelpunktstausch des Kopernikus von Erde und Sonne unter Beibehaltung des festbegrenzten, starren antiken Kosmos — die orientalische, „hierarchische“ Struktur des von hoch oben die Welt regierenden Gottes über einem ummauernden Fixsternhimmel, oberhalb des tief unten ruhenden Mittelpunkts Erde, unter der die Hölle gähnte, preisgab zugunsten eines unendlichen, grenzenlosen Alls mit unendlich vielen Mittelpunkten, da ja alles Entfaltung und Enthalt Gottes ist27. So hebt er die dualistischen Wertgegensätze von Himmlisch und Irdisch, von Heilig und Profan, von Geistlichem und vom Laien auf und wandelt sie in die Gleichwertung der unendlich ungleichen, individuellen Menschen, deren ein jeder auf seine Weise das Unendliche, Ewige, Göttliche repräsentiert. Bei aller Verschiedenheit der je einzigartigen Individualitäten ist ein jeder dennoch sinnvoll auf jeden anderen und das Ganze gestimmt und strebt kraft seiner inneren Unendlichkeit, zu wachsen und sich zu vervollkommnen, um in freier Entfaltung der in ihm angelegten schöpferischen Fähigkeiten und göttlichen Seinsfülle /u einem Selbst und zum Mitschöpfer und Partner Gottes zu werden. Denn jeder kann nur wahrhaft „sein“, sofern Gott in ihm gegenwärtig ist, der sein Sein ausmacht. Darum kann nur er selbst sein in der Wechselseitigkeit der freien gott-menschlichen Zuwendung. Ein Selbst zu werden, hängt von ihm selber ab. In seiner schönsten und tiefgründigsten Schrift Von Gottes Sehen führt der Cusaner den Leser auf einen „Gleichnisweg“, auf dem er Gott so anredet:
„Du sprichst in der Tiefe meines Herzens:
,Sei du dein eigen, und ich werde dein eigen sein!’
Du hast es ganz zur Sache meiner Freiheit gemacht,
daß ich, wenn ich will, ich selber sein werde.
Bin ich nicht ich selbst, so bist Du auch nicht mein. —
Es hängt also von mir ab, nicht von Dir.“28

Indem der Mensch sich dem Göttlichen in der eigenen Tiefe öffnet, es in sich zuläßt, gibt das Göttliche ihm sich selbst:
„Wenn ich Dein Wort höre, das in mir unaufhörlich redet
und beständig in meiner Vernunft leuchtet,
so bin ich mein eigen und frei
— nicht ein Sklave der Sünde.“29

Das Selbstwerden durch Einswerdung mit Gott begründet des Menschen Freiheit. Seine Selbstentfaltung bedeutet die freie Verwirklichung des göttlichen Geistes, der durch ihn spricht, der göttlichen Schöpferkraft, durch die er, mit der Philosophie, mit der Kunst, mit der Technik Neues erschafft, was die Schöpfung noch nicht hervorgebracht hatte, sie bedeutet schließlich sein Selbstdenken, das sich nicht von Büchern und Autoritäten nährt, sondern durch Erfahrung aus den Büchern der Natur, die Gott geschrieben hat. Das Einssein von Gott und Mensch wird in der menschlichen Selbstentfaltung zur schöpferischen Partnerschaft.




In seinen Ketzern errang Europa seine zerstörte Identität zurück

„Jedes Seiende“ — so hatte Nikolaus Cusanus, wie wir eingangs hörten, das Wesen der Selbstidentität bezeichnet, „ist nur in seinem eigenen Sein ganz selbst.“ Als Folge von Zerstörung und Verlust der Selbstidentität hatte er klar die „Uneigentlichkeit“ der Existenz erkannt: „In jedem anderen kann es sich nur uneigentlich repräsentieren.“ Denn, so fügt er hinzu, „die nichtübertragbare Identität“ auf jemand anders übertragen, geschieht unweigerlich „um den Preis des Andersseins“. Damit ist das Los des europäischen Menschen während mehr als einem Jahrtausend in wenigen Worten umrissen.

Europa hatte das Schicksal, in einem Glauben leben zu müssen, der nicht der seine war und seinem Wesen, Erleben, Fühlen, Denken nicht entsprach, der „sein eigenes Sein“ vergewaltigte, sein Bewußtsein durch dualistische Zerreißung alles dessen, was hier und für viele blieb, umformte und durch Setzung fremder ihm widerstreitender Wertakzente umpolte und damit den inneren Kompaß, die nachtwandlerische Sicherheit im Beschreiten des „rechten Weges“ zerstörte. Denn Verlust der eigenen Religion als eines ganzheitlichen Seinsbezuges bedeutet Gesamtverlust der eigenen Identität.

Indem das Volk in einem schmerzhaften Umerziehungsprozeß, der Jahrhunderte in Anspruch nahm, unter den Opfern seiner Eigentlichkeit mehr oder weniger zu Christen gemäß dem ihm gepredigten Selbstverständnis des schwachen, der Gnade Gottes und der Erlösung durch den Tod seines Sohnes bedürftigen Sünders wurde, wehrten sich die mutigsten, eigenständigen und schöpferischen Geister gegen die Zumutungen des fremden Glaubens und entzündeten in der Reibung durch Widerspruch die Flamme ihrer eigenen, aus innerster Wesensnotwendigkeit aufsteigenden religiösen Überzeugung. Ungezählte Tausende nahmen ohne Rücksicht auf sich selbst die gigantische Herausforderung auf, welche die Entwürdigung und Verkrüppelung ihres Menschseins und des ihnen Heiligsten an ihren Mut und ihr schöpferisches Denken stellte. Waren es anfangs nur einzelne Große, von deren Geist sich eine nicht abreißende Spur bis in die Gegenwart zieht — von Pelagius bis Storm, Hebbel, Rilke und weiter, von Eriugena und Giordano Bruno über Goethe bis Teilhard de Chardin und Saint-Exupery, von Meister Eckhart und Nikolaus Cusanus über Jakob Böhme bis Heidegger und Jaspers —, so wächst ihre Zahl beständig und ist in der Gegenwart in ungebrochener Kontinuität zu einer sich weit ausbreitenden, alle europäischen Nationen, alle gesellschaftlichen Schichten und alle Generationen übergreifenden religiösen Gemeinsamkeit erstarkt. Was konnte schlagender die religiöse Identität Europas ausweisen als die spontanen Proteste und selbständigen Entgegensetzungen seiner Ketzer als Urheber eigener religiöser Schöpfungen mit eigener Perspektive und ihre immer wieder staunenerregenden Übereinstimmungen untereinander über Jahrhunderte und über alle nationalen Grenzen hinweg — Übereinstimmungen, die oft unabhängig voneinander und ohne voneinander zu wissen, allein der ihnen gemeinsamen, ureigenen Erlebensweise, der immer gleichen Gotteserfahrung, demselben Wesensgesetz in der eigenen Brust entstammten? In seinen Tausenden von Ketzern kam Europa immer erneut und aus seinem Urgrund erneut zu sich selbst, wurde es sich in seinen größten Geistern seiner selbst, seines Wesens und seiner eigenen göttlichen Tiefe bewußt in einer eigenen europäischen Religion, die über das sich seinem Untergang zuneigende Zeitalter der Selbstentfremdung hinweg tragende Kräfte entfalten wird.



„Jedes kann nur wahrhaft ‚sein’, sofern Gott in ihm sein Sein ausmacht“

Die Nur-Protestierenden freilich, die den Mut zum eigenen Selbst und die Kraft zum eigenständigen Weg abseits der ausgetretenen ideologischen Straßen nicht aufbrachten, sie warfen mit dem von Nietzsche diagnostizierten „unglaubwürdig gewordenen Glauben an den christlichen Gott“ jeden Glauben über Bord, fegten mit dem christlichen „Jenseits“ jegliche „Transzendenz“, das heißt jedes „Überschreiten“ der vordergründigen Dingwelt des den Sinnen und dem Verstand Gegebenen davon. Indem sie jede Bindung zerrissen, ihre eigenen Wurzeln abschnitten und sich somit aller Quellen ihrer Kraft begaben, haben sie sich als Entwurzelte, Unbehauste selbst den von Nietzsche vorhergesagten Schrecken des totalen Nihilismus ausgeliefert mit allen Ängsten und Verzweiflungen in letzter Sinnleere und Verlorenheit ihres verödeten Daseins, das nach Untergang, Ende, Totsein süchtig ist. Die christliche Entwürdigung und Entheiligung des Menschen, der Welt, der Natur hat in diesen Protestierern gegen den christlichen Gott, in diesen Aussteigern aus dem Sinn, in diesen Emigranten aus der Heillosigkeit des Diesseits — das nach dem Kappen des „Jenseits“ ein „Diesseits“ des Nicht-Seienden ist und „vom Nichts umdroht“ — ihre letzten Opfer zugerichtet. Ihre Preisgabe aller Transzendenz rächt sich an ihnen mit dem Verlust des Seins.

Denn sie haben in ihrer Radikalität das Wesentliche für eine heile Identität selbst zerstört, das ihnen Antoine de Saint-Exupery mit dem Gebet des Großen Kaid in der Stadt der Wüste in Erinnerung ruft, das hier aber auch für jene stehen mag, die auf dem Weg zu ihrer wahren religiösen Identität sind:
„Verbinde mich wieder dem Baum, von dem ich stamme!
Ich bin ohne Sinn, wenn ich allein bleibe ...
Hier bin ich aufgelöst und vorläufig.
Ich trage Verlangen, zu sein.“30
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptySo Jun 05, 2011 6:36 pm

Ein sehr schöner, gehaltvoller Text, danke! Ich weiß nicht, ob die Identifikation mit dieser Gedankenwelt so breit und so typisch europäisch ist, dass man von einer europäischen Religion sprechen kann; ich finde es schon schwer, unter den Menschen, denen ich im Alltag begegne, etwas wie eine wie auch immer geartete europäische Identität auszumachen- ganz anders als beispielweise in Lateinamerika, wo ich durchaus das ganz deutliche Gefühl habe, dass es eine ausgeprägte lateinamerikanische Identität gibt... Auch scheint es mir diverse außereuropäische Kulturen zu geben, denen duales Denken nicht minder fremd ist als diesen europäischen Strömungen...

Aber eine Linie ganz wesentlicher ähnlicher Gedanken und religiöser Gefühle durch die Generationen gibt es sicher; und auch die Gleichzeitigkeit unabhängig voneinander auftauchender ähnlicher Gedankengänge überrascht nicht- dies ist ja genauso faszinierend auch in der Wissenschaft zu beobachten- manchmal scheint es, als sei die Zeit nun endlich reif für einen bestimmten wesentlichen neuen Gedanken; und nun keimt derselbe Gedanke, den eben noch sehr wenige Menschen dachten, die dafür allesamt bestenfalls belächelt wurden, auf einmal an den unterschiedlichsten Stellen; und langsam langsam wird dieses Neue gesellschaftsfähig- bis hin zu offiziell denkbar. Und irgendwann erscheint es selbstverständlich und kaum ein Mensch versteht, wieso Leute früher hatten anders denken können...
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptySo Jun 05, 2011 8:38 pm

Stimmt - in der Mitte des vorigen Jahrhunderts war das noch kein Allgemeindenken, heute schon eher, da hat sich einiges getan.
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptyMo Jun 06, 2011 1:44 pm

Natrix schrieb:
. Auch scheint es mir diverse außereuropäische Kulturen zu geben, denen duales Denken nicht minder fremd ist als diesen europäischen Strömungen....
Welche meinst Du? Mir würde hier eigentlich nur der Daosmus einfallen
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptyDi Jun 07, 2011 12:32 pm

Ich müsste mich da mal richtig kundig machen, aber vom Gefühl her meine ich, dass viele Naturvölker zwar so etwas wie eine Einheit der Gegensätze kennen (Tag und Nacht, oben und unten, hell und dunkel, ruhig und bewegt, Ordnung und Chaos...) aber das wird kaum als "Gut und böse" interpretiert wie im Christentum. In der naiven Malerei, wie sie z. B. Indianer in Südamerika machen, begegnet mir die Welt als ein großer Kosmos, in dem alles Mögliche ganz gleichberechtigt nebeneinander wohnt- auch der Mensch erscheint dabei nicht als "Krone der Schöpfung", sondern als Lebender unter Lebenden. Das Göttliche selbst ist zu groß, um abgebildet zu werden, aber die Liebe zur Schönheit in der Natur, zu jedem einzelnen Detail wird sehr deutlich in dieser Malerei. Diese Menschen s i n d tiefreligiös und doch malen sie traditionell vor allem die Natur mit den Menschen darin, oft auch Sonne, Mond, Wind, Wasser, Geistwesen... ohne irgendeins der zahlreichen Elemente in den Vordergrund zu stellen- man malt doch das, was den eigenen Geist ausfüllt... Überhaupt scheint es mir im indianischen Denken nicht nur dieses Gefühl der Verwandtschaft alles Seienden zu geben, sondern gleichzeitig auch die Heiligung der Natur als Ganzes oder jedes einzelnen Wesens, inbegriffen des Menschens. Alles ist Medizin, göttliche Energie, Schöpfung oder mit dem Schöpfer verbunden, Ausdruck seines Willens, seiner Kraft, sein Bote oder vielleicht auch Träger seiner Energie. Gott selbst und seine "Struktur" (Entschuldigung, selbst ich finde dieses Wort sehr unpassend, irgendwie fällt mir aber gerade nix Besseres ein) wird aber nicht so verkopft diskutiert und definiert wie in unserer westlichen Welt. Ich mag dieses bekannte Indianerwort: "Die Weißen sprechen ü b e r Gott, wir sprechen m i t Gott." Das Göttliche ist einfach da und es wird direkt oder indirekt kommuniziert. Und oft erdreistet man sich nicht, dieses Göttliche klar zu umreißen oder ihm einen konkreten Namen zu geben- da ist dann eben vorsichtig umschreibend vom Großen Geheimnis, Großen Geist oder dem Verwalter/der Verwalterin des Universums/der Ganzheit/von Raum und Zeit die Rede... Oftmals hat das Wort für Gott eine sehr vielschichtige Bedeutung, die sich gar nicht mit einem einzigen Wort ins Deutsche übertragen lässt. Im schamanischen Denken Asiens und Amerikas wird die Welt als eine Ganzheit gesehen, in der es zwar unterschiedliche Ebenen geben kann- die aber doch eins ist- und der Göttliche Bereich -wie auch immer er im einzelnen heißt-umfasst und durchdringt alles...

Ich habe da jetzt kein extra Quellenstudium betrieben, aber das ist es, was ich hier und da in Gesprächen, persönlichen Begegnungen und aus Büchern mitgenommen habe- ist zunächst mal mein persönlicher Eindruck.

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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptyDi Jun 07, 2011 12:58 pm

Naja - das ist eben pantheistisch. Der muss weder polar, noch unitiarsch aufgebaut sein.

Und der Begriff "Manitu" stammt von den Völlkern, die zur Algonkin - Sprachgruppe gehör(t)en zBsp Cherokee) und passte zum Weltbild dieser Volksgruppe. Die Überhöhung dieses Begriffes für "alle Indianer" stammt aus der christlichen Mission, die ihren Heiligen Geist damit verbanden und einen pseudo-indianischen Einheitsgeist schufen, der heute von vielen Indiandern übernommen wurde.

Bist du dir sicher, dass deine Interpretationen anderer Kulturen von der deinigen nicht gepägt und verändert wurde? (durch dich und andere) - Daher sind mir meine eigenen Wurzeln, meine Sprachgruppe und Geschichte wichtiger - hier habe ich einen Bezug, der bis in meine innersten Seelenschichten geht.tli

Eigentlich schreibst du ja - dass die Sichtweise des obigen Beitrages nicht stimmig ist.weil das angeblich nicht spezifisch europäisch sei. Kannst du mal konrekt auf die Themen eingehen, von denen du das annimmst? Ich halte von diesm Einheitsbrei, den du hier vorstellst, nicht sehr viel. Auch wenn das "in" ist.
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptyDi Jun 07, 2011 3:01 pm

Ja, klar ist das pantheistisch.

Ich weiß, dass man nicht alle Indianer kulturell zu einem Einheitsbrei machen sollte und es auch in der Religion ganz viele verschiedene Spielarten gibt, dieser pantheistische Aspekt scheint mir nur bei Naturvölkern sehr verbreitet zu sein; und das ist doch auch ganz natürlich, weil die Wahrnehmung doch durchaus von der Lebensweise abhängt, und wer viel in der Natur i s t und schon aus praktischen Gründen wirklich aufmerksam ist, seine Sinne bündelt und öffnet, der nimmt doch dieses Göttliche irgendwann auch ganz natürlich wahr...
"Manitu"ist ja nur eine Bezeichnung. In anderen Sprachen in Nordamerika gibt es andere Namen, die zum Teil Ähnliches ausdrücken. Die Nachfahren der Inkas in Südamerika kennen nicht nur Inti, den Sonnengott etc., sondern auch Pachacamac oder Pachamama (Pacha= Zeit, Raum, All, Ganzheit, Universum; -camac= Verwalter, jemand, der etwas in seiner Obhut hat und darin schaltet und waltet, um es gut zu entwickeln_ ein huasicamac ist z. B. ein Hausverwalter; mama die Mutter; regional steht Pachamama auch für Mutter Erde- dann aber vor allem dort, wo Mutter Erde eine ganz zentrale Bedeutung hat, mehr als nur das Element Erde symbolisiert)...

Ja, und natürlich ist meine Sichtweise anderer Kulturen immer von der meinigen geprägt und verändert. Ich bemühe mich um ein vorurteilsarmes Schauen, glaube aber nicht, dass ich dazu schon in der Lage bin- es ist menschlich, dass wir alles, was wir wahrnehmen durch unsere eigenen Vorstellungen filtern.
Ich merke an mir, dass ich mehr unterwegs bin auf der Suche nach Gemeinsamkeiten als auf der Suche nach Unterschieden- vielleicht bewerten wir beide deshalb manche Dinge unterschiedlich.

Und ich glaube, dass das Interesse vieler Menschen an anderen Kulturen auch deshalb so groß ist, weil wir unsere eigenen Wurzeln nicht so deutlich wahrnehmen und dann die Erinnerungslücken bei anderen Kulturen füllen. Ich will keine Indianerin sein, aber ich schaue durchaus nach Gemeinsamkeiten und vor allem nach fehlenden Puzzleteilchen, die meine löchrige Identität auffüllen können- ich richte mich dabei einfach nach dem Bauch. Manchmal habe ich so ein Gefühl, dass etwas wirklich passt- nicht von der Sprachwurzel her vielleicht, aber vom Grundgedanken , vom Grundgefühl her... dann übernehme ich das vielleicht vorsichtig, gebe ihm vielleicht eine eigene Färbung- das passiert fast unmerklich- so wie sich die Worte eines Märchens verändern, das ich wieder und wieder erzähle.Ich glaube, es gibt einen natürlichen Prozess der Vermischung von Kulturen und Religionen und das ist OK. Oder auch Rituale... ich bin sicher, dass auch unsere Vorfahren (die ja auch ein kultureller Mix waren und keine reinen Germanen o. ä.) ihre ureigenen Rituale hatten zur Reinigung, zur Initiation in verschiedene Lebensphasen, zur Visionssuche, zu vielem anderen mehr. Aber leider kenne ich sie nicht und kenne auch niemanden, der mir davon aus ungebrochener Überlieferung glaubwürdig erzählen könnte, also ergänze ich das, was ich hier nicht finde, mit dem, was ich woanders finde. Was ich hier finde an praktischer Überlieferung, würde ich vorziehen: so finde ich es z. B. viel interessanter, das traditionelle überlieferte Handauflegen zu lernen als das importierte Reiki- dafür muss ich aber Geduld haben, jemanden finden, der mich auch als Schüler akzeptiert. Oder ich mag gern die traditionellen Jahresfeste feiern, weil die vom Gefühl her sehr gut in unser Klima und den Lauf der Jahreszeiten und in meine eigene Gefühlswelt passen. Wenn ich an einem entfernten Ort lebte, würde ich wahrscheinlich eher oder auch die Feste feiern wollen, die dort verwurzelt sind.
Aber ich habe z. B. leider keine Ahnung, was "unsere" Leute hier in unseren Steinkreisen tatsächlich veranstaltet haben, oder welche Wege "unsere" Vorfahren hatten, um jemandem dabei zu helfen, ein ganzer Mensch, eine harmonische Persönlichkeit zu werden... Es ist wunderschön, wenn man kraftvoll aus den eigenen Wurzeln heraus leben kann, ich hatte aber zeitweise das Gefühl, abgeschnitten zu sein und dies erst durch persönliche Erfahrungen in fremder Natur und z. T. mit Menschen aus anderen Kulturen überwunden. Ich glaube nicht, dass das so sein m u s s- es w a r nur in meinem Fall so.
Wenn ich in mich hineinhorche, fühle ich mich nicht als Europäerin. Ich kann Dir echt nicht sagen, was es für mich bedeutet, Europäerin zu sein- da ist kein Widerhall. Ich fühle mich verbunden mit Wald und Wasser, aber nicht nur mit dem Mitteleuropäischen Buchenwald oder so. Wenn ich irgendeine waldige Wildnis betrete, fühle ich mich auf einen Schlag zu Hause- auch wenn ich nur einen Teil der Pflanzen und Tiere wiedererkenne. Ich habe das paradoxe Gefühl überall wurzeln zu können, obwohl ich abgesehen von ein paar längeren Reisen mein ganzes Leben in ein und derselben Landschaft lebe, die ich durchaus liebe.

Eigentlich schreibst du ja - dass die Sichtweise des obigen Beitrages nicht stimmig ist.weil das angeblich nicht spezifisch europäisch sei. Kannst du mal konrekt auf die Themen eingehen, von denen du das annimmst?

He, Skinir, hast Du nicht bemerkt, dass ich Dir für den Text gedankt habe? Ich habe das durchaus ehrlich gemeint!

Ich glaube nur insgesamt nicht so an dieses "typisch Europäische" vielleicht und wage gelegentlich, es anzuzweifeln, wo es behauptet wird, weil ich es (noch) nicht f ü h l e n kann- und weil ich ja jemand bin, der tendenziell Gemeinsamkeiten über- und Unterschiede unterbewertet. Zu sagen, etwas sei typisch europäisch, heißt ja gleichzeitig, das gibt es sonst fast nirgends. Da habe ich dann manchmal Zweifel, weil ich mir sage, da muss man doch erst einmal überall herumgucken, ob das wirklich so ist. Und wahrscheinlich bin ich auch ein bißchen angepiekst nicht speziell durch Dich, sondern durch so einen verbreiteten Eurozentrismus, der mich immer wieder ärgert, aber den ich diesem Text auf keinen Fall unterstellen will. Zum Beispiel passiert es, dass der Theaterbegriff nach dem Muster der in Europa vorhandenen Theaterformen definiert wird und dann -o Wunder- gibt es auf anderen Kontinenten vor Ankunft der Europäer auf einmal gar kein Theater oder nur so mickrige Prä- oder Vorformen. Letzten Endes führt das dann zu dem falschen Gesamteindruck, wir Europäer seien irgendwie nicht nur wesentlich anders, sondern auch deutlich besser oder entwickelter als Menschen auf anderen Kontinenten. Und das passt mir dann natürlich gar nicht.
Ich glaube grundsätzlich, dass es gut wäre, eine stärkere europäische Identität zu entwickeln- sonst kommen wir auch mit politisch-wirtschaftlichen Versuchen wie der EU etc. nicht weit; und der Mensch b r a u c h t eine Identität, braucht kulturelle Wurzeln. Dazu müssen sicher auch die Ideen der europäischen Ketzer zählen. Aber diese Identität darf nicht dazu führen, dass wir uns über Menschen anderer Kulturkreise stellen.

Um jetzt eine Art wissenschaftliche Beweisführung für meine Zweifel zu erbringen, brauche ich Zeit, die ich im Moment nicht habe. Vielleicht komme ich darauf zurück oder gebe zu, dass ich mich geirrt habe- ich bitte Dich da um Geduld.

Ich halte von diesm Einheitsbrei, den du hier vorstellst, nicht sehr viel. Auch wenn das "in" ist.

Was "in" ist, interessiert mich nicht, ich bin mir darüber klar, dass ich mehr emotional geschrieben und nicht tiefgründig wissenschaftliche Fakten zusammengetragen habe. Ich habe nur meine ersten Gedanken und Gefühle zu dem Text ausgedrückt, es macht nichts, wenn Du damit nicht einverstanden bist, aber vielleicht kann ich Dir ja im Streit noch mehr interessante Texte entlocken Wink

Liebe Administratoren- falls ich gespammt haben sollte- bitte löschen, was überflüssig erscheint.

Danke

Natrix.
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BeitragThema: Re: Europas eigene Religion   Europas eigene Religion EmptyMi Jun 08, 2011 2:32 pm

Mir ist schon klar, dass es bei der Bewertung um dich selber ging, um deine Beziehung zu Eropa, dem spezifisch Eigenem usw und weniger um den eingestellten Text und dessen Inhalt.

Hier ist das Wichtigst eigentlich die postive Selbstbewertung, des eigenen Egos und der eigenen Tradition (zu der natürlich auch das Christentum zählt) das Suchen nach dem spezifisch Eigenem, uverwechselbaren, das es von den anderen heraushebt. Und hier fangen die Probleme an. Einmal, weil die heutige öffentlich anerkannte Sicht "Alles ist Gleich" dem entgegenzustehen scheint, und zum anderen unsere deutsche Geschichte, mit dem "spezifisch eignem des Deutschen" zu einer bestimmten Zeit, hier ebenso hemmend ist.

Weist du, das Problem am Rassismus ist nicht seine Unterteilung der Völker in Gruppen (Rassen) - das macht die Theosophie und die Anthropsophie und andere ebenso - sondern die Bewertung. Das wir Europäer uns genetisch von den Menschen asiatischer Herkunf unterscheiden, das bestimmte Volksgruppnen in Asien oder Europa einen bestimmten "Genpol" haben und das der Mensch durchaus über seine Vererbungslinie wichtige körperliche und auch seelische Eigenschaften mitbekommt, ist wissenschaftlich bekannt. Aber kein Mensch, keine Volksgruppe oder eine Rasse ist besser also die andere - und das (nur das!) ist das, was am Rassismus abulehnen ist.

Es gibt keine Unterrassen und keine "reinen" Rassen und keine Mischrassen usw. - Ebenso wie es das "rein germanische" oder "rein deutsche" nicht gibt. Es ist immer ein Geflecht mit einem spezifischen Schwerpunkt, der sich ändert.

Was dagegen als Identitätssuche, als "typisch Eigenes" in der Familie, im Volk, im Eropäischen Völkergemisch, oder im Asiatischen stattfand oder stattfindet, würde ich als sinnig und notwendig erachten - auch wenn das dem entgegengesetz sich orientierendem "linken Denken" zuwiderläuft.
und hier gehört auch das Heidentum hin, mit seiner Wurzelsuche in Kultur, Landschaft und Geschichte

Vielleicht solltest du erst einmal hier ansetzen, und dich fragen, warum du - anscheinend - Schwierigkeiten, mit dem "typisch eropäischem" (oder "deutschem"?) hast? Warum du Angst oder Ablehnung bei einer Überbewertung dieses "Typischen" verspürst.

Denn wie gesagt - es scheint mir weniger um den Text - als um dein subjektives Empfinden zu gehen - was übrigens "typisch deutsch" entsprechend der Jetztzeit erscheint.
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